Ordnung beim “Fahren ohne Pferde”
Am 1.1.1909 erhob man im damaligen Deutschen Reich eine Statistik überdie Anzahl der
Automobile im Lande und die bisherigen Unfälle mit Motorwagen. 41727 Autos waren
unterwegs, dafon nur 2252 Lastwagen. Allein auf Preußen entfielen 22362 Fahrzeuge.
Bayern hatte mit Abstand 5086 Fahrzeuge, gefolgt vom Rheinland mit 4290 und Sachsen
mit 4062 Automobilen. Diese Erhebung war notwendig geworden, um das teilweise desolate
Straßennetz an das rasch wachsende Autoaufkommen anzupassen, Ordnung in den mobilen
Verkehr durch gesetzliche Maßnahmen zu bringen und über die Unfallstatistik zu Ursachen
menschlichen Versagens zu kommen.
Man war aufgeschreckt worden, dass es bis zum 30.09.1908 (Zwischenerhebung!) mehr als
5000 Unfälle mit Motorwagen gegeben hatte, bei denen 2055 Männer und 570 Frauen
schwer verletzt wurden. Die Anzahl der Toten belief sich auf insgesamt 141 Personen - und
das bei einem noch recht “bescheidenen” Automobilbestand ! Der Ruf nach einheitlichen
gesetzlichen Regelungen, technischen Verbesserungen sowie menschlich richtigen
Verhaltensweisen beim “Fahren ohne Pferde” war unüberhörbar scharf geworden. Gegner
der Motorwagenentwicklung prognostizierten Horrorszenarien für die Zukunft ! Schließlich
verspürte man, dass das Entwicklungstempo der Automobile schneller wurde, als die
Einführung der modernen Elektrotechnik. Denn: Gerade mal 23 Jahre lagen zwischen der
Erfindung und der statistischen Erhebung der Preußen zum Automobil und den
Unfallgeschehen.
Erster schwerer Unfall mit einem Simson-Automobil
Als die Firma “Simson & Co” in ihr Produktionsprofil die mittleren Automodelle 1911
aufnahm. beobachtete man diese Entwicklung sehr aufmerksam, von einigen Suhler
Industriellen sogar spöttisch begleitet. Den Produktionsumfang verglich man mit einem
“Gemischtwarensortiment”. So wird erklärlich, dass die örtliche Presse den ersten, schweren
Unfall mit einem “SIMSON-Automobil” auch ausgiebig kommentierte, war er doch mit
Todesopfern verbunden.
Am 21. April 1914 erschütterte ein ausführlicher Pressebericht die Suhler Zeitungleser. Er
stand in der Ausgabe der “Henneberger Zeitung” und ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt.
Vornweg schicken muss man, dass in dem Suhler Großbetrieb die so genannte “A-B-C-
Simson-Modellreihe” von 1911 bis 1919 hergestellt wurde. Diese Typen hatten kein Händler-
netz im herkömmlichen Sinne. Der Verkauf kombinierte sich vielmals mit Waffen- sowie
Maschinenlieferungen, bei Privatpersonen mit Jagdwaffenbestellungen.
Was war passiert ?
Der größere “SIMSON Typ D”, mit einen nach Kundenwünschen angefertigten Karosserie-
aufbau kam aus Merane in Sachsen und war am 17. April 1914 per Bahn nach Suhl ange-
liefert worden. Das Fahrzeug hatte Motorschaden. Am Samstag reparierten die Monteure an
dem Suhler Modell intensiv herum. Immer wieder wurden Probefahrten nachmittags vorge-
nommen. Die Reparaturleistungen fanden nur im Heinrichser Werk statt. Dort war im April
1914 ein Chauffeur des Besitzers bereits im Heinrichser Werk eingetroffen und sollte den
“SIMSON” am Sonntag zurückkutschieren. Noch am Samstag entschied man sich am späten
Abend zu einer letzten Probefahrt.
Über Suhl, Schmiedefeld, Schleusingen und nach Suhl/Heinrichs zurück sollte diese Fahrt
gehen. Im Auto hatten sieben Personen Platz genommen. Neben Monteuren und dem
Werksmeister waren auch der fremde Chauffeur, ein Polizeisergeant und ein Arbeiter mit im
Wagen. Es ist zu vermuten, dass der Chauffeur des Besitzers selbst das Fahrzeug lenkte.
In der auch heute noch scharfen Kurve zum Abzweig “Eisenberg” platzte ein Vorderreifen
und verursachte den schwersten Unfall in der Geschichte des Simson-Automobilbaus. Der
Wagen knallte in den Straßengraben und stürtzte um. Die Wucht des Aufpralls muss
gewaltig gewesen sein. Zufällig kam der Schmiedefelder Hermann Holland mit seinem
Motorrad an der Unfallstelle vorbei. Über ihn wurde die Sanitätskolonne Schmiedefeld
alarmiert, die sich besonders der beiden Schwerverletzten annahm. Wie ein Wunder blieben
der fremde Fahrer und weitere vier Insassen nur leicht verletzt, so dass sie vor Ort versorgt
werden konnten.
In einem Pressebeitrag der “Henneberger Zeitung” vom 21.4.1914 steht dazu wörtlich:
“ ... Sie (die Leichtverletzten) konnten in der Nacht den Heimweg zu Fuß zurücklegen, das
Auto ist nicht vollständig zertrümmert, wie es zuerst hieß, sondern sehr stark beschädigt.”
Es waren offenbar hart gesogene Burschen, die in der Früh um 4 Uhr nach Suhl und
Heinrichs gelaufen sind ! Und dass nach einem solchen Schreckenszenario, denn wie es ihren
Mitinsassen, Max Hartig und Alfred Rotter erging, die in die Arztpraxis nach Schmiedefeld
gebracht worden waren, konnten sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Der Arzt von
Schmiedefeld versuchte alles, die beiden Heinrichser Automobil-Spezialisten zu retten. Trotz
seines Bemühens verstarb als erster Alfred Rotter und später, nachdem man noch
Hoffnungen gehegte hatte, auch Max Hartig. Beide erlagen ihren schweren Schädel- und
Lungenverletzungen.
In der Führungsetage der Simson-Werke war man schockiert. Am 23.4.1914 wurde in der
“Henneberger Zeitung” ein Nachruf des Werkes geschaltet, in dem von treuen, zuverlässigen
Mitarbeitern die Rede ist, “ ... die unsere Wertschätzung in hohem Maße fanden” . Dieser
tödliche Unfall veranlasste das Amt Schleusingen, eine Gerichtskommission einzusetzen, die
den Sachverhalt untersuchte. Sie gab einen ersten, öffentlichen Bericht schon am 26.4.1914
bekannt, der die Totesursache mit einem ärztlichen Gutachten bestätigte. Bei einem Gerichts-
verfahren wurde der Fahrer des Autos nicht belastet. Ihm bescheinigte man fahrerisches
Können und Beherrschung des Autos. Der Reifenplatzer, so die Schleusinger Kommision,
hatte nichts mit menschlichen Leichtsinn zu tun. Trotzdem nagte noch lange Zeit dieser
schwere Unfall an den Verantwortlichen des Simson-Automobilbaus. Ein Imageverlust für
den neuen Herstellerzweig wurde beführchtet, der jedoch nicht eintrat.